Zitat:
Einem Artikel von Cornelia Filter, veröffentlicht in der "Emma", Ausgabe 3/2009, verdanken wir eine erfrischend freimütige Beschreibung dessen, was Selbert letztlich beabsichtigte. Es heißt dort:
Der Selbert'sche Satz sehe zwar "ziemlich harmlos" aus, aber er hätte "unabsehbare sozialpolitische Folgen", rechtfertigt ein paar Tage später der Christdemokrat Albert Finck die negative Entscheidung seiner Fraktion: "Fast alle Bestimmungen über Ehe- und Familienrecht würden dadurch über den Haufen geworfen und außer Kraft gesetzt." Und genau das hat Selbert vor.
Welcher Art waren nun diese Bestimmungen, die Selbert außer Kraft zu setzen vorhatte? Es waren Bestimmungen, welche die Frau dem Manne unterordneten. Von den Feministen wurden und werden diese als ungerecht empfunden. Fairerweise läßt die Autorin des zitierten Artikels aber auch einen Verfechter der Tradition zu Wort kommen. So etwa den "feinsinnigen, kultivierten Carlo Schmid":
"Es ist klar", schwadronierte er am 1. Dezember 1948 im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rats, "dass [...] die Bestimmungen, die die Frau in ihren Rechtshandlungen an gewisse Genehmigungen binden, nicht getroffen worden sind, um die Frau zu benachteiligen. Diese Bestimmungen sind getroffen worden, um die Frau zu schützen (...) und stellen eine Begünstigung dar; so wie es eine Begünstigung des Minderjährigen ist, dass das Gesetz verbietet, ihn an einer rechtsgeschäftlichen Willenserklärung festzuhalten, solange der Vater oder Vormund nicht zugestimmt hat."
Ihm, Carlo Schmid, war offenbar klar, was damals eigentlich allen klar war, mit Ausnahme von Selbert und den Feministen: Daß Frauen auf natürliche Weise "behindert" sind und ihre traditionell untergeordnete Stellung keineswegs auf einem Machtkampf beruhte, den die Männer aus unerfindlichen Gründen einst gewonnen hätten. Denn wäre Letzteres der Fall, dann wären die vier "Mütter des Grundgesetzes" gar nicht erst in ihre Positionen gekommen. Es war ja nicht so, daß sie ihre Positionen erkämpft hätten. Sie waren einfach nur begabter als fast alle anderen Frauen. Anders gesagt: sie waren untypische Frauen.
Was war nun der Grund, daß Selbert gegen alle Vernunft sich durchsetzen konnte? Es war der Krieg und das Blutopfer der Männer. Cornelia Filter spricht es unverhohlen aus:
1946 kommen auf 1.000 Männer 1.263 Frauen; 3,6 Millionen deutsche Soldaten sind gefallen oder werden vermisst; im Mai 1945 sind 11,6 Millionen Männer in Gefangenschaft, und ein Jahr später sind es immer noch zwei Millionen.
Kein Wunder, dass es Elisabeth Selbert leicht fällt, ihre Drohung wahr zu machen.
Sie selbst hat ihren Anspruch, stellvertretend für alle Frauen zu sprechen, so begründet:
Die Frau, die während der Kriegsjahre auf Trümmern gestanden und den Mann an der Arbeitsstelle ersetzt hat, hat heute einen moralischen Anspruch darauf, so wie der Mann bewertet zu werden.
Sie führt also weibliche Verdienste ins Feld, die sie aus der Bewältigung einer vorübergehenden Notsituation ableitet. Doch abgesehen davon, daß den Frauen zu ihrem eigenen Überleben auch gar nichts Anderes übrigblieb und ihr Anteil sich bei näherem Hinsehen als keinesfalls so überragend erweist, wie es immer noch behauptet wird, so handelt es sich bei dem von Selbert erhobenem weiblichen Anspruch schlichtweg um das, was wir in anderen Zusammenhängen als Putsch bezeichnen würden: Der Herr rückt aus zur Landesverteidigung, um nach seiner Rückkehr das Haus besetzt vorzufinden - von den eigenen Untergebenen!
Wiederum sehr offen klärt die Autorin uns auf. Der Satz: "Männer und Frauen sind gleichberechtigt"
ist die "einzige Aussage des Grundgesetzes", so die Historikerin Antje Späth, "die nur durch einen öffentlichen Druck von 'unten' getroffen worden ist". Noch 30 Jahre nach ihrem Triumph sagt Selbert schlicht: "Es war die Sternstunde meines Lebens."
Man beachte: Durch Druck von unten! Das klingt nach Volksherrschaft, also Demokratie. Aber spricht das wirklich zugunsten der betreffenden Aussage? Wenn der Staat dem "öffentlichen Druck von unten" stattgäbe, dann müßte er z.B. auch Folter und Todesstrafe in Gesetze gießen und würde somit noch einige weitere "Sternstunden" erleben. Zuletzt stellt sich gar noch die Frage, ob nicht all die anderen Artikel des Grundgesetzes, die ja von wenigen Fachleuten, also "von oben" beschlossen wurden, als weniger legitim oder gar als illegitim zu gelten hätten.